Zuletzt aktualisiert 1. Juni 2018
Bernd Lucke ist nicht mehr Mitglied der AfD, aber irgendwie immer noch da. Zu seinen Hinterlassenschaften gehört eine Unvereinbarkeitsliste, die auf seine Initiative hin von der Partei beschlossen wurde und die zunehmend riecht wie ein faules Ei, dessen braun-gelb-roter, muffiger Inhalt die AfD zu vergiften droht.
Am Anfang stand eine gute Absicht. Die AfD grenzt sich offensiv ab gegen extremistische Strömungen aller Art. Sie begegnete mit der Unvereinbarkeitsliste unsachlichen Vorwürfen, die da lauten, Kritik an der Zuwanderungspolitik Angela Merkels sei rassistisch und verfassungsfeindlich. Die AfD verteidigt die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und verdeutlicht deshalb mit Luckes Liste nicht nur, was sie will und wofür sie steht, sondern auch, was und wen sie eben gerade nicht will: politische Extremisten aller Art und deren Ideologien.
Soweit die Idee. Soweit, so gut.
Ist die AfD eine normale demokratische Partei?
Aber warum hat von den im Bundestag vertretenen Parteien nur die AfD eine Unvereinbarkeitsliste, nicht aber eine der anderen Parteien? Ist das demokratische Bekenntnis der AfD-Vorstandsmitglieder weniger glaubwürdig als dasjenige der Vorstände von SPD, CDU, CSU und FDP? Die kommen alle ohne Unvereinbarkeitsliste aus. Wann ist die AfD selbstbewusst genug, es ihnen gleich zu tun?
Mit Luckes Liste stellt sich die AfD unwillentlich selbst in den Verdacht, zu jenen Parteien und Organisationen, von denen sie sich distanziert, in irgendeiner Beziehung zu stehen – sonst wäre ja die Distanzierung überflüssig. Das haben SPD, CDU, CSU und FDP nicht nötig. Wie lange hat es die AfD noch nötig?
In einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie ist es nicht unanständig, unter bestimmten Voraussetzungen die Partei zu wechseln. Das gilt erst recht, wenn veränderte politische Rahmenbedingungen zu einer Neuorientierung politisch aktiver Menschen führen, die versuchen, eine konstruktive Antwort zu geben auf jene alte rhetorische Frage Konrad Adenauers, die da lautete: „Wer will mich daran hindern, von Tag zu Tag klüger zu werden?“
Warum keine Unvereinbarkeit zu NSDAP und SS?
Zwei für die Entwicklung der Demokratie in Nachkriegsdeutschland wichtige Organisationen fehlen in Luckes Liste: SS und NSDAP. Das heißt, Gerhard Sommer aus Hamburg beispielsweise könnte – zumindest formal – Mitglied der AfD werden. Als Angehöriger des Jahrgangs 1921 war er Untersturmführer der SS. Er steht im Verdacht, im Zweiten Weltkrieg 342 Menschen ermordet zu haben. Alle Strafverfahren gegen ihn sind aber mittlerweile eingestellt worden, und er wurde nie strafrechtlich verurteilt. Im Sinne von Luckes Liste ist er also ein unbescholtener Bürger und reif für die Aufnahme in die AfD.
Auch SPD, CDU, CSU und FDP haben es nie abgelehnt, ehemalige SS- und NSDAP-Mitglieder aufzunehmen und sie sogar in die höchsten Staatsämter zu befördern. Mein erster jemals veröffentlichter Artikel erschien 1980 in der „Kladde“, der Schülerzeitung des Kreisverbandes Krefeld der Schüler-Union. Die Überschrift lautete: „Girgensohn weg vom Thron!“ Damit war Jürgen Girgensohn gemeint, der SPD-Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen, der maßgeblich für die Einführung der Gesamtschule im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland verantwortlich war.
Girgensohn war Rottenführer der SS. Kein Problem für eine Partei wie die SPD, die über ein stabiles demokratisches Selbstbewußtsein verfügt.
Radikaler als die SED im Stalinismus?
Hunderte andere NSDAP- und SS-Angehörige haben nicht nur in den westdeutschen Parteien SPD, CDU, CSU und FDP, sondern auch in der SED und den DDR-Blockparteien Karriere gemacht. Nur einmal kam es zu einem Rausschmiss. Er traf 1959 Ernst Großmann, der zwar Mitglied der SED bleiben durfte, aber aus dem Zentralkomitee- also dem höchsten Gremium – der Partei entfernt wurde. Grund dafür war nicht seine frühere Zugehörigkeit zur SS, sondern der Umstand, dass er in seiner Biographie seine Tätigkeit als Bewacher im KZ Sachenhausen verschwiegen hatte.
Wer annimmt, im Umgang mit ehemaligen Mitgliedern anderer politischer Parteien fanatischer verfahren zu müssen, als es die SED in den Zeiten des Stalinismus tat, beweist damit nicht die Authentizität seines demokratischen Bekenntnisses, sondern eher das Gegenteil.
Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch die SED und ihre Nachfolgepartei in Luckes Liste fehlt.
Schachmatt durch die Dame im Spiel?
Dafür stehen drei Organisationen drin, die nicht totalitär waren: Die Freiheit, pro Köln und pro Deutschland. Den Mitgliedern dieser beiden Vereinigungen kann man zweifellos vorwerfen, zu früh zu viel gewusst und insbesondere zu viel gesagt zu haben – Schweigen ist ja bekanntlich in der Politik manchmal Gold. Umso bedauerlicher ist, dass Luckes Liste in diesen Tagen innerhalb eines westdeutschen AfD-Landesverbandes zu internen Verwerfungen führt, die der Partei schweren Schaden zufügen. Dabei geht es um die – bereits vollzogene – Aufnahme einer Dame in die AfD, die zuvor Mitglied bei pro Deutschland war und vor der einer der regionalen Könige der AfD so viel Angst hat, dass er sie unbedingt schlagen will, um der abstrakten Möglichkeit vorzubeugen, irgendwann einmal selbst Schachmatt gestellt zu werden.
Diese Furcht ist im konkreten Fall übrigens eingebildet und vollkommen irreal. Aber Ängste dieser Art sind ja in der Politik leider weit verbreitet.
Hier also schadet Lucke der AfD selbst jetzt noch, obwohl er sich längst in die politische Bedeutungslosigkeit verabschiedet hat.
Angst vor den Untoten
Manche AfD-Vorstände unterschätzen sich selbst und wissen gar nicht, was sie geschafft haben, was sie können und was sie wert sind. Dafür überschätzen sie andere. Zum Beispiel Bernd Lucke.
Lucke ist politisch schwach, weil seine Grundüberzeugungen bereits im etablierten Parteienspektrum abgebildet werden und seine Variante von liberaler Politik nicht prägnant genug ist, um den Bestand einer eigenen politischen Partei zu rechtfertigen. Da wird nichts draus!
Unabhängig hiervon ist Lucke ein durchaus begabter politischer Intrigant (also eigentlich ein idealer Mann für CDU und FDP), und so kann ich gut nachvollziehen, dass bei der AfD mancher erstmal erleichtert und tief durchgeatmet hat, als er weg war. Und so, wie die Menschen in Transsilvanien den Sarg eines Vampirs doppelt zunageln und noch Gewichte drauflegen, um der Wiederkehr des Untoten vorzubeugen, hat die AfD für Luckes Partei der Untoten eine besonders scharfe Regelung beschlossen, die da lautet:
„Bewerber, die Mitglied der Partei ‚Allianz für Aufbruch und Fortschritt‘ sind oder waren, können nicht Mitglied der AfD werden.“
Das ist kulturübergreifend menschlich nachvollziehbar – in Transsilvanien ebenso wie in Deutschland. Die Stimmung, aus der heraus solche Beschlüsse sprießen, kann ich im engeren Sinne der Formulierung gut nachvollziehen.
Und trotzdem ist der Beschluss auf lange Sicht unklug und sollte bei passender Gelegenheit entsorgt werden.
Das Rennen ist gelaufen: Die AfD hat sich als zentrale Kraft des freiheitlich-patriotischen Spektrums in Deutschland politisch durchgesetzt. Luckes Splitterpartei ist überflüssig. Einige andere Splitterparteien sind es ebenso.
Nicht jeder, der Lucke in die politische Bedeutungslosigkeit gefolgt ist, handelte aus bösem Willen. Manchmal spielen persönliche Bindungen und Loyalitäten für solche Entscheidungen eine Rolle.
In jeder Generation gibt es eine bestimmte Zahl von Menschen, die bereit sind, sich politisch zu engagieren. Dieser Anteil lässt sich nicht beliebig ausweiten. Eine Minderheit der grundsätzlich politikwilligen Menschen ist aufgrund von charakterlichen Defiziten oder von ideologischem Fanatismus politikunfähig. Dieser Typ schadet; ihn braucht die AfD nicht.
Aber aus dem Kreis ihrer politikfähigen Zeitgenossen müssen die AfD-Vorstände jeden mitnehmen, den sie erreichen können, um die AfD stark zu machen.
Volkspartei AfD
CDU und SPD haben jeweils mehr als 400.000 Mitglieder. Die CSU hat 140.000 Mitglieder, und die Grünen 64.000 sowie die FDP 54.000. Die AfD ist mit etwas mehr als 30.000 Mitgliedern die kleinste der im Deutschen Bundestag vertreten Parteien. Aber sie hat das politische Potential einer Volkspartei – und die ist auf Dauer nicht mit einer nur fünfstelligen Mitgliederzahl zu machen.
Neue, qualifizierte, politikfähige Mitglieder sollten von den amtierenden Vorständen einer Partei nicht unter dem Gesichtspunkt potentieller Konkurrenz um Parteiämter und Parlamentsmandate zur Kenntnis genommen, sondern als unverzichtbare Voraussetzung für die Stärkung des eigenen politischen Lagers erkannt und begrüßt werden.
Foto oben: CC-Lizenz, WDKrause