Zuletzt aktualisiert 22. Oktober 2019
Der Einmarsch türkischer Streitkräfte in den Norden Syriens ist das schlimmste Debakel in der seit 2003 währenden Präsidentschaft Recep Erdogans. Und mit jeder Woche, die der Konflikt andauert, wird es schlimmer. Erdogan hat sich verzockt. Mit seinem gegen die Kurden gerichteten Feldzug hat er sich in eine Konfrontation mit Russen und US-Amerikanern hineinmanövriert, die er nicht erfolgreich bestehen kann. Wofür Hitler acht Jahre brauchte – nämlich, den Schulterschluss der beiden Weltmächte zu provozieren -, dass schaffte Erdogan mit einer einzigen Fehlentscheidung innerhalb weniger Tage. Und dass, obwohl ihn Trump noch kurz vor Beginn seines politischen Amoklaufs gewarnt hatte.
Vermeintlich leichte Beute
Das Kalkül des Sultans am Bosporus war es offenbar, mit dem Einmarsch in einen 444 Kilometer langen und rund 35 Kilometer breiten, von Kurden bewohnten Streifen entlang der türkisch-syrischen Grenze gegen geringen militärischen Widerstand kurdischer Milizen, die nur über wenige schwere Waffen verfügen, drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Er wollte das Piemont einer kurdischen Nationalstaatsbildung ausradieren, Siedlungsraum für arabische Flüchtlinge aus Syrien schaffen und seinen innenpolitischen Kritikern, die ihm u.a. die wirtschaftliche Misere der Türkei vorhalten, durch außenpolitische Konfrontation den Wind aus den Segeln nehmen und die nationale Geschlossenheit der Türken einfordern.
Erreicht hat er das genaue Gegenteil: Solidarität aus aller Welt stärkt den Kurden den Rücken, die sich zäh und erfolgreich verteidigen. Die Präsenz syrischer und überlegener russischer Streitkräfte in der Region verhindert einen türkischen Durchmarsch. Das türkische Militär beherrscht jeweils nur dasjenige Stück Boden, auf dem die türkischen Soldaten gerade stehen, ist aber von einer Kontrolle der Region weit entfernt. Was aus zwangsumgesiedelten syrischen Flüchtlingen unter diesen Umständen werden würde, ist ungewiss. Die wirtschaftliche Misere Ankaras wird durch US-Sanktionen und EU-Waffenembargos noch verstärkt. In den USA ist Anklage gegen die zweitgrößte Staatsbank der Türkei, die Halkbank, erhoben worden. Sie soll Wirtschaftssanktionen gegen Iran umgangen haben. Für die Türken stehen 20 Milliarden US-Dollar auf dem Spiel. Probleme in dieser Größenordnung kann Erdogan gerade überhaupt nicht brauchen.
Ende der Ära Erdogan?
Die Entwicklung läuft gegen Erdogan. Er kommt ohne massiven innenpolitischen Gesichtsverlust aus seinem Syrien-Abenteuer nicht mehr heraus. Und es ist nur eine Frage der Zeit, wann der nationale Kitt der Türken bröckelt und ein größer werdender Teil der Bevölkerung kritische Fragen zum Sinn eines militärischen Abenteuers stellt, das die Türkei Milliarden kostet, ohne irgend eines der drängenden Probleme des Landes zu lösen.
Erdogans Fehlentscheidung, nach Syrien einzumarschieren, könnte das Ende der Ära Erdogan einläuten.
Ganz nebenbei offenbart der Konflikt das militärische und politische Leichtgewicht der Bundesregierung. Das tragische Geschehen entlarvt Berlin als politische Luftnummer. Maas & Co. können sich Kommentare und Bewertungen der Ereignisse sparen: in Ankara und Damaskus, in Moskau ebenso wie in Washington hört ihnen ohnehin niemand zu.