Zuletzt aktualisiert 10. Juli 2019
Das Icelandic Modern Media Institute (IMMI) schlägt Alarm: Die politischen Systeme der europäischen Staaten seien nur noch selbsterhaltend, würden aber keine Probleme mehr lösen. „Wir sollten panisch sein“, sagt Birgitta Jonsdottir, die Leiterin des IMMI, im Interview mit „heise online“, denn: „Jedes Land ist im Krieg mit sich selbst.“
Die Politik auf dem Rückzug
Die gewählten Volksvertreter hätten demnach kaum noch Einfluss. „Die Parlamentarier haben am wenigsten Macht“, behauptet Jonsdottir. Die Verwaltung und die Ministerialbürokratie hätten das Übergewicht. Jeanette Hofmann, Leiterin einer Forschungsgruppe am Wissenschaftszentrum Berlin, bestätigt diese Einschätzung. Durch Privatisierung und die Verlagerung von Verantwortung an internationale oder supranationale Institutionen hätten Regierungen und Parlamente „faktisch alle Kontrolle über die Infrastrukturen verloren“. Was ihnen bliebe, seien lediglich noch „Marktkorrekturen“.
Eine Folge des Kontrollverlustes sei das schwindende Vertrauen der Europäer in die politischen Parteien, ergänzt der französische Historikers Pierre Rosanvallon: „Wählen ist heute Abstrafen.“ Vor allem junge Menschen würden demnach nicht verstehen, warum nach jeder Wahl die Politik die gleiche sei wie vorher und Veränderungen scheinbar nur aus technischen Innovationen der Privatwirtschaft resultieren würden, nicht aber aus politischen Entscheidungsprozessen. „Die Parteien könnten da eine ganze Generation verlieren.“
Meinungsfreiheit in Gefahr
Jonsdottir sieht die Meinungsfreiheit in Gefahr. Unabhängige Journalisten würden von den Trägern eines handlungsunfähig werdenden politischen Systems als Risiko eingeschätzt werden. Der Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange ist nach ihrer Meinung der „vielleicht größte Test, ob die Pressefreiheit noch unter dem Schutz des Rechts steht, ebenso wie all diejenigen, die alles riskieren, um Korruption, Macht und Habgier bloßzustellen.“
Als Alternative zu den unglaubwürdig gewordenen politischen Apparaten schlägt sie „zufällig gewählte Personen“ als Bürger-Repräsentanten vor, „die uns für beschränkte Zeit vertreten, um Lösungen für bestimmte Probleme zu suchen“.
Tatsächlich würden solche zufällig bestimmten und nicht gewählten Volksvertreter möglicherweise schon alleine deshalb weniger Schaden anrichten als der gegenwärtige Politikbetrieb, weil sie gestützt auf ihre Alltagserfahrung gesunden Menschenverstand in politische Entscheidungsprozesse einbringen könnten – falls es gelingt, sie gegen die Lobbyisten abzuschirmen. Genauso gut könnte man eine vereidigte Lotto-Fee politische Entscheidungen auswürfeln lassen. Oder Paul fragen, den „WM-Kraken“ von 2018.
Re-Nationalisierung zur Rettung der Demokratie
Sinnvoller wäre allerdings die Re-Nationalisierung der europäischen Politik und die Wiederherstellung des Primats des Politischen vor dem Ökonomischen. Schluss mit der demokratiefeindlichen Internationalisierung!
Direkte Demokratie durch Volksentscheide auf kommunaler, Landes- und Bundesebene würden den Bürger wieder auf die politische Bühne zurückholen. Die Direktwahl des Regierungschefs – in Deutschland also des Bundeskanzlers – durch das Volk würde dessen Stellung und die Macht seiner Regierung stärken. So ließe sich die staatliche Handlungsfähigkeit wiederherstellen – an den Parteien vorbei.
Es gilt, Meinungsfreiheit und Medienvielfalt zu stärken. Zudem brauchen wir ein völlig anderes, an die technischen Möglichkeiten unserer Zeit angepasstes Steuersystem, das nicht Einkommen und Unternehmensgewinne, sondern Umsätze (ohne Vorsteuerabzug) und den Verbrauch von Rohstoffen besteuert. Das wäre einfach zu überprüfen. Und solchen Steuern könnte sich niemand entziehen.
Globalisierer zur Kasse bitten
Wenn auch Amazon und Google, Apple und Microsoft dort Steuern zahlen müssen, wo sie Umsätze erzielen, lohnt es sich wieder, an politischen Entscheidungsprozessen teilzunehmen. Denn dann ist Geld in der Staatskasse, und Entscheidungen der demokratisch gewählten Regierung würde nicht im Sande verlaufen, wie heute, sondern könnten tatsächlich umgesetzt werden. Das wäre für eine ganze politikaverse Generation eine völlig neue, die Demokratie beflügelnde Erfahrung.
Nichts ist für immer. Keine Mauer steht ewig. Kein System ist unüberwindlich. Unsere Zukunft ist offen, und die (wirkliche) Demokratie hat ihre besten Zeiten nicht hinter sich, sondern ganz offensichtlich erst noch vor sich!